70 Jahre Fußgängerstraßen in Deutschlands Innenstädten

© Matthias Masch

Am 28. November fand im Kieler „Nordlicht“ eine Festveranstaltung zum 70. Geburtstag der Kieler Holstenstraße als Kooperationsveranstaltung der Stadt Kiel und der Bundesstiftung Baukultur statt. Anlass war der Rückblick auf das 70-jährige Bestehen der ersten Fußgängerstraße in Deutschland, die bereits 1953 für den Autoverkehr gesperrte wurde. Barbara Ettinger-Brinckmann, Beiratsvorsitzende der Bundesstiftung Baukultur stellte die Kasseler Treppenstraße als erste städtebaulich konzipierte Fußgängerstraße Deutschlands vor. Aber es wurde auch in die Zukunft geblickt: Reiner Nagel moderierte die Veranstaltung und berichtete über den deutschlandweiten Transformationsprozess unserer Innenstädte. Kiels Stadtbaurätin Doris Grondke stellte abschließend die bevorstehende Neugestaltung und Aufwertung der Holstenstraße vor.

Mit den ersten Fußgängerstraßen, der Lijnbaan in Rotterdam, der Kieler Holstenstraße sowie der Treppenstraße in Kassel wurde der Grundstein für die inzwischen 3.000 Fußgängerstraßen und -zonen in Deutschland gelegt. Die Fußgängerzone bildete jahrzehntelang das Rückgrat des stationären städtischen Einzelhandels und war lange zugleich das Ziel, das viele im Sinn haben, wenn es hieß: „In die Stadt gehen“.

Doch diese Funktion der Einkaufsstraße haben sich insbesondere durch die Etablierung des Onlineshoppings gewandelt. Während zunächst die Globalisierung für immer gleiche Geschäfte sorgte und neue, auf der grünen Wiese gebaute Shoppingcenter leere Innenstädte zurückließen, lassen sich heute zu jeder Tages- und Nachtzeit alle vorstellbaren Produkte im Internet bestellen und bequem nach Hause liefern. Man kann beobachten, wie sich die Funktionen der Stadt in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt haben: während sich bis ca. 1950 Stadt und Handel gegenseitig bedingten (man denke ans Marktrecht einzelner Städte oder den Marktplatz als Treffpunkt), zeigte die Etablierung von Shoppingcentern auf der grünen Wiese vor der Stadt klar, dass die Stadt zwar den Handel braucht – der Handel aber nicht die Stadt. Und mit dem Internet samt Online-Shopping ging die Entwicklung noch einen Schritt weiter: Stadt & Handel brauchen zwar das Internet – das Internet braucht aber weder die Stadt, noch den Handel, so der Handelsexperte Wolfgang Christ.

Die Verschiebung vom stationären Handel hin zum verstärkten Online-Shopping, hat Uniformität, Ramsch-Läden und im schlimmsten Fall Leerstand in den zentralen und gut frequentierte Innenstadtlagen zur Folge – die Einkaufsstraße als „gute Stube der Zwischenstadt“ war damit häufig passé. Pop-up-Aktionen wie in Oberhausen versuchten durch Slogans wie „Amazon ist keine Stadt“ die Konsumentinnen und Konsumenten wachzurütteln. Da die Abkehr vom Online-Handel nicht zu erwarten ist, muss man sich die Frage stellen, welche baulichen, gestalterischen, sozialen und kulturellen Maßnahmen getroffen werden können, um Fußgängerstraßen und -zonen wieder attraktiv zu machen.

Inspiration hierfür lieferten die guten Wünsche der Referentinnen und Referenten, die sie als „Geburtstagsgeschenke“ bei der Jubiläumsveranstaltung an das „Geburtstagskind“, die Holstenstraße, richteten. Ein Wunsch lautete die Schaffung einer neuen Funktionsmischung: der Handel soll um Wohnen und Freizeitangebote wie z.B. Bibliotheken ergänzt werden. Dies würde zu einer ganztägig belebten Fußgängerstraße führen, da konsumfreie Zonen auch zum Verweilen einladen.

Diese neue „inhaltliche Füllung“ der Fußgängerstraße muss von einer guten, gebaute Form unterstützt werden: dies beinhaltet einen clever geplanten Umbau des öffentlichen Raums, inklusive Sitz- und Aufenthaltsmöglichkeiten für alle Generationen und der klimabedingten Ergänzung um grüne und blaue Infrastrukturelemente sowie mehr Kleinteiligkeit, Umbau statt Ersatzneubau, Verankerung mit dem Umfeld, Baupflege ( Gestaltungsberatung für die Gebäude) sowie entwurfliche Maßnahmen wie eine einladende Gestaltung der Erdschosszonen, statt beklebter Schaufenster, um Sichtkontakt zu ermöglichen.

Nicht außer Acht gelassen werden dürfen mehr Sinnlichkeit und Schönheit in der Stadt, wie Ulrich Brinkmann, Redakteur der Bauwelt, in seinem Vortrag deutlich machte und dies Wolfgang Erichsen, Vorsitzender des Forums Innenstadt und Christiane Jüngerich, Vorsitzende von „Die Fleethöker“ bestätigten.

Das Interview von Reiner Nagel mit den Kieler Nachrichen finden Sie hier online.

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